Denken wir groß!
Unser Nachhaltigkeitsforum 2021
Das Thüringer Nachhaltigkeitsforum 2021 (TNF21) fand am 20.10.21 in Präsenz im Seminarhaus der Weimarhalle statt. Veranstaltet von Thüringer Umweltministerium und Nachhaltigkeitsbeirat, orchestriert und organisiert von uns. Mit 110 Teilnehmenden, unter 3G-Regel (kontrolliert) und einem Wettermix aus Herbstsonne, Wolken und heftigen Böen.
Denken wir groß, das stand – rückblickend - wie eine Headline über dem Tag. Es war gewissermaßen die Quintessenz des Vortrages von Dr. Gregor Hagedorn, dem akademischen Direktor des Naturkundemuseums zu Berlin. Er ermutigte alle Anwesenden, den Kleinmut sausen zu lassen und die Veränderungen, die für eine gute Zukunft aller notwendig sind, beherzt anzugehen. Alle Schritte hin zu Klimaschutz, Artenschutz, Naturschutz, Ressourcenschutz, Gleichwürdigkeit seien zu zaghaft gewesen. Wir müssen zügig und wirkungsvoll voranschreiten. Und uns dabei viel mehr als bisher von positiven Zukunftsbildern leiten lassen. Doch der Reihe nach.
Zukunftsbilder – das war das Oberthema unseres TNF21. Es ging dabei nicht nur darum, welche Zukunftsbilder wir brauchen, sondern auch, wie wir sie gemeinsam entwickeln können. Und es ging – wie alle Jahre zuvor – um gute Beispiele.
Die Thüringer Umweltministerin Anja Siegesmund begrüßt die Gäste
Eröffnung der landesweiten Tagung
Zu Beginn gab es geballte Frauenpower. Drei Grußworte von drei Frauen.
Den Anfang machte Anja Siegesmund, Ministerin für Umwelt, Energie und Naturschutz. Sie warf ein kurzes Schlaglicht auf besondere Initiativen, die vom TMUEN ausgegangen sind, so u.a. auf den jüngst ausgelobten Reparaturbonus. 6.000 Menschen, die defekte technische Geräte nicht wegschmeißen sondern reparieren lassen wollen, stellten einen Antrag. So war das Bonus-Programm schnell ausgeschöpft und wird demnächst neu aufgelegt. Bundesweit ist das eine einzigartige Aktion und könnte Vorbildcharakter haben. Gleichzeitig appellierte die Ministerin, nicht zu zaghaft den Klimaschutz anzugehen. Die 2020er Jahre sind das entscheidende Jahrzehnt, um dem Klimawandel mit geeigneten Maßnahmen entgegenzusteuern – bevor die Veränderungen und Kosten unberechenbar werden.
Jana Liebe, Sprecherin des Thüringer Nachhaltigkeitsbeirates, schaute in ihrem Grußwort mit Sorge auf die thüringischen Wahlergebnisse der zurückliegenden Bundestagswahl. Zukunft kann nur gestaltet werden in einem demokratischen, humanistischen und weltoffenen Miteinander hier in Thüringen. Eine echte Herausforderung.
Schließlich begrüßte Dr. Claudia Kolb die Anwesenden im Namen der gastgebenden Stadt Weimar. Sie stellte die Kluft zwischen notwendigem Handeln und finanziellen Möglichkeiten dar. Die meisten Thüringer Kommunen haben mit finanziellen und personellen Engpässen zu schaffen. Da könne es schon passieren, dass man die Zukunftsbilder aus den Augen verliere. Um so wichtiger seien Menschen, die genau das nicht tun. Weimar schätzt sich glücklich, dass viele solcher Menschen in der Stadt leben und sich in diversen zukunftsträchtigen Projekten engagieren – was ja auch der Nachmittag des TNF21 anschaulich zeigen werde.
Könnten wir uns Kopenhagen klimaneutral bis 2025 zum Vorbild nehmen?
1. Dialogrunde
Zur ersten Dialogrunde des Vormittags fanden sich die Thüringer Umweltministerin, Prof. Dr. Matthias Gather (Sprecher des Thüringer Nachhaltigkeitsbeirates), und Dr. Martha Doehler-Behzadi (Geschäftsführerin der IBA Thüringen) auf der Bühne zusammen. Live aus Kopenhagen zugeschaltet war Stefan Werner, Consultant bei der Nachhaltigkeitsagentur Ramboll und ehemaliger Mitarbeiter der Stadtverwaltung Kopenhagen. Thema der Runde: „Zukunftsbilder gemeinsam gestalten“.
Stefan Werner erzählte, wie Kopenhagen bereits vor 20 Jahren begann, sich zukunftsfähig aufzustellen. Kopenhagen will schon 2025 klimaneutral sein – als erste Hauptstadt der Welt. Dafür arbeitet die Kommune zielstrebig den gemeinschaftlich beschlossenen Maßnahmenplan ab. Ein Beispiel: Das Radwegenetz wurde auf 600 km erweitert, Vororte mit angeschlossen, reine Fahrrad-Highways inmitten der Stadt geschaffen. Mehr als 50% der Kopenhagener:innen fahren inzwischen mit dem Rad zu Arbeit oder Schule. In der Stadtverwaltung sind im Bereich Klimaschutz und -anpassung rund 100 Leute beschäftigt. Vor 20 Jahren waren es noch 10. Stefan Werner beschrieb außerdem das aktive Engagement der Kopenhagener:innen beim Entwerfen von Zukunftsbildern für ihre Stadt. Er sagte aber auch, dass das nicht automatisch bedeutet, dass jeder sein persönliches Konsumverhalten überdenke oder nur noch bio einkaufe.
Prof. Gather merkte an, dass es in den Metropolen eine Art Wettbewerb um nachhaltige Mobilität gäbe und jede Metropole „das neue Kopenhagen“ werden möchte. Dabei wird der ländliche Raum völlig außer Acht gelassen. Mit dem Fahrrad in die nächste Kreisstadt? Auf dem Land sind die Menschen zufrieden, wenn sie ein Auto haben. ÖPNV nutzen sie nicht. Dementsprechend braucht es Debatten über klugen, klimaneutralen Verkehr im ländlichen Raum. Und es braucht dringend den Blick auf das Gesamte; es braucht vor allem lebenswerte, lebendige Dörfer, z.B. mit einem Dorfladen oder mit mehr medizinischer Vor-Ort-Betreuung oder ähnlichen sozialen Infrastrukturen. Es braucht ein Kopenhagen für den ländlichen Raum. Dafür schlägt Prof. Gather die Einrichtung einer Modellregion mit kostenlosem ÖPNV vor.
Dr. Doehler-Behzadi beschrieb die Gemeinde Kirchheilingen mit ihren IBA-geförderten Projekten. Die Gemeinde baut seniorengerechte Häuser, plant sogenannte Gesundheitskioske und kümmert sich auch um die Nahversorgung der Menschen. Doehler-Behzadi führte weiterhin aus, dass so viele weitere Themen zu bearbeiten seien. Dahinter aber steckten grundlegende systemische Fragen. Unendliches Wachstum auf einem endlichen Planten ist unmöglich. „Wir haben die Möglichkeit, der Wachstumsspirale zu entkommen – praktische Beispiele liegen vor“, ermunterte Martha Doehler-Behzadi.
Die Umweltministerin Anja Siegesmund konstatierte, dass in den letzten Jahren einiges geschafft wurde, dessen uns wir bewusst werden sollten. Aber es muss jetzt noch so viel mehr und so viel schneller passieren, in Sachen Klimaschutz und Energiewende und Artenschutz etc. Ein weiteres wichtiges Thema ist das Abwassermanagement: in Thüringen liegt der Anschluss ans Abwasser nur bei 84%. Hier muss dringend in die Infrastruktur investiert werden. Auch das Thema Wärme/ Heizung/ Nutzung von Abwärme muss aktiv angegangen werden. Die Ministerin appellierte, dass wir gemeinsam vor Ort an kleinen Schritten arbeiten und den Menschen die Angst vor der notwendigen Transformation nehmen. Dafür muss die Vision stimmen. Ihr Fazit: „Nachhaltigkeit – jetzt noch viel mehr!“
Dr. Gregor Hagedorn (Akademischer Direktor am Museum für Naturkunde Berlin)
Vortrag – was macht uns handlungsfähig?
Dr. Gregor Hagedorn betonte in seinem Vortrag "Utopien, Szenarien, Zukunftsbilder – was macht uns handlungsfähig?“, dass es wichtig ist, Nachhaltigkeit als ganzheitlichen Ansatz zu begreifen. Ob Energiewende oder Wärmewende - alle „Wenden“ sind wichtig, es darf keine Rivalität untereinander geben. Wir müssen groß denken: dreimal so viel Windkraft, sechsmal so viel PV-Ausbau, 90% weniger Fleisch, kein Verkauf von Produkten, bei denen ein Recyceln unmöglich ist, 20% des Unterrichtes an Schulen und Universitäten sollten zum Thema Nachhaltigkeit stattfinden. Seit Jahren erreichen wir die gesetzten Ziele nicht. Hagedorn verglich das mit der Medizin: die Dosis macht das Medikament oder das Gift. Wir verändern nach Belieben die Dosis bis hin zur Unwirksamkeit. Die Folge? Der Abstand zu den Zielvorgaben wächst. Der Weltenergieverbrauch beispielsweise ist gestiegen, der Anteil der Erneuerbaren Energien leider nicht im gleichen Verhältnis. Hagedorn rief auf, „die Regler auf Anschlag zu drehen“. Die Risiken des Wandels wären deutlich geringer als das Risiko des „Weiter so!“. Er ermunterte mit Beispielen. Dass Wandel schnell gehen kann, zeigt bspw. das Rauchverbot in Gaststätten, das jetzt selbst von den meisten Rauchern geschätzt werde. Wandel beginnt im Kopf und im Herzen.
2. Dialogrunde
In der anschließenden Dialogrunde „Mit Zukunftsbildern Menschen erreichen“ diskutierte Dr. Hagedorn mit Beate Seidel (Chefdramaturgin am NT Weimar) und Anton Brokow-Loga (Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bauhaus-Uni).
Beate Seidel fragte: Wer ist „Wir“? Dr. Hagedorn parierte, dass „Wir“ auf allen Ebenen stattfindet. Wir müssen mehr mit unserer Familie, unseren Freund:innen, unseren Kolleg:innen über Nachhaltigkeit sprechen. Wir müssen uns in Parteien engagieren. Das „Wir“ besteht aus vielen kleinen Wirs. Diese müssen eine kritische Masse bilden für zukunftszugewandte Veränderungen. Beate Seidel ergänzte, dass wir einander mehr zuhören müssen und vor allem andere Kulturkreise und Milieus besser einbeziehen und verstehen müssen. Wir müssen genauer hinschauen und untersuchen, warum gewisse Dinge keinen Widerhall in weiten Teilen der Gesellschaft finden. Eine Elite der Freiwilligen reicht nicht. Dr. Hagedorn führte Bürgerräte als positives Beispiel ins Feld. Bürgerräte rekrutieren sich aus allen Schichten, Milieus und Subkulturen und diskutieren direkt und unmittelbar über die Belange der Kommune. Anton Brokow-Loga sprach sich deutlich dafür aus, das Wachstums-Paradigma zu überwinden. Wir brauchen Räume jenseits von Geldvermehrung und „können uns anders beschenken“. Dr. Hagedorn forderte, den Wohlstand gerecht zu verteilen.
Alte Feuerwache Weimar
Nachhaltigkeit entdecken
Am Nachmittag führten drei Exkursionen zu guten und schönen Beispielen in Weimar.
Franziska (Line) Bernstein stellte die Alte Feuerwache Weimar vor. An der Ecke Erfurter Straße/ Mozartstraße entsteht hier auf dem ehemaligen Feuerwehrgelände ein selbstverwaltetes Wohn- und Arbeitsquartier nach nachhaltigen Gesichtspunkten. Es geht um eine vielfältige Gemeinschaft, bezahlbaren Wohnraum und sinnvolle Arbeit.
Der Rundgang mit Grit Tetzel führte zum Bio-Laden Rosmarin am Herderplatz und zum Bio-Markt Kirschberg – dem ersten Biosupermarkt Thüringens mit Vollsortiment. Beide Läden werden von der Erzeuger- und Verbrauchergemeinschaft (EVG) Weimar betrieben. Seit 2014 ist die EVG eine eingetragene Genossenschaft. Angeboten werden über 5.000 Bio-Produkte ausgesuchter Ökobetriebe zu fairen Preisen, aber auch Bildungsveranstaltungen und vielseitige Ideen gegen den Verpackungsmüll. Das jahrzehntelange Engagement wurde kürzlich mit dem Weimarer Umweltpreis 2021 gewürdigt.
Der Fair-Fashion-Stadtspaziergang mit Andreas Bauermeister führte zu Händler:innen in der Windischenstraße, wo es Kleidung von fairen, ökologischen Marken und nachhaltige Accessoires zu kaufen gibt.
In der Bürgermeister-Lounge im Seminarhaus der Weimarhalle ging es vor allem um nächste Schritte innerhalb der landesweiten Info-Kampagne "Thüringen: Mehrwert durch Mehrweg".
Dr. Friedrich Bohn und Dr. Gregor Hagedorn stellten das Projekt „Zukunftsbilder“ der Scientists for Future (S4F) am Umweltforschungszentrum Leipzig vor. Friedrich Bohn nahm die Teilnehmer:innen mit auf eine Reise in die Zukunft. Bezogen auf die Themen Mobilität, Bildung und Wissenschaft, Wohnen und Landwirtschaft erarbeiteten sie, wie eine veränderte Gesellschaft in 20 Jahren aussehen könnte und welche Maßnahmen dafür notwendig sind. Ergebnisse des Workshops.
Welche Fähigkeiten und Einstellungen braucht es für die Entwicklung einer menschenwürdigen, intakten Welt von Morgen? Darum drehte sich die Diskussionsrunde "Mit Zukunft bilden" der Landesarbeitsgemeinschaft Bildung für nachhaltige Entwicklung Thüringen (LAG BNE). Maria Fronz, Fachpromotorin Globales Lernen beim Eine Welt Netzwerk Thüringen e.V. stellte den sog. Whole Institution Approach – den ganzheitlichen BNE-Ansatz -vor. Alfred Bax, Projektleiter beim Kulturrat Thüringen e.V., referierte zum Projekt „PARTHNER qualifiziert für die Thüringer Zukunft“ und nahm besonders „Kultur und Demokratiebildung“ in den Blick. Annett Landmann vom NHZ skizzierte den aktuellen Stand des Thüringer Qualitätssiegels BNE - Qualitätsentwicklung außerschulischer Bildungsträger*innen.
Einig waren sich alle, dass „BNE und Globales Lernen keine Kür“ sein sollten – sondern Pflicht.
Zukunftsbilder
Das Fazit unseres TNF 21?
Nur mit vereinten Kräften und mit vollster Schubkraft können wir die globalen Herausforderungen stemmen. Als gutes Beispiel könnte uns das Ozonloch dienen. In den 1980er haben es die Menschen weltweit geschafft – vor allem auch durch gesetzliche Rahmenbedingungen – innerhalb kürzester Zeit das Ozon-schädigende FCKW aus Prozessen und Produkten zu verbannen (z.B. aus Deosprays).
Um solche großen Veränderungen heute zu schaffen, brauchen wir konkrete, positive Bilder. Keine Paradies-Versprechen, aber gute Aussichten. Wir selbst nur können diese Aussichten benennen. Packen wir es an! Schnell und mit Großmut.
Weitere Infos und Impressionen:
nhz-th.de/fachforen.html
www.nachhaltigkeitsbeirat-thueringen.de